Golo Mann, der Sohn des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann, wählte sich die Historie als Gegenstand seines Werkes. Seine „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ ist ein Genuss für all jene, die sich für dieses Thema interessieren. Wer die sogenannten langen Linien studieren will, ist bei ihr genauso gut aufgehoben wie derjenige, den es zur Einzelbetrachtung besonderer Phänomen oder Personen treibt. Bismarck beispielsweise erhält hier ein Portrait, das plastischer und aufschlussreicher kaum sein könnte.
Wie verhält sich die Geschichtswissenschaft zur Literatur? In Golo Manns Werk sind die Grenzen fließend. Sowohl präzise historische Analysen als auch essayistische Höchstleistungen trifft der Leser an, das Buch liest sich wie ein guter Roman. Als Beispiel soll der erste Satz gegeben werden: „Viel hat der europäische Genius erfunden und der Welt gegeben; Böses und Gutes, solche Dinge zumeist, die zugleich gut und böse waren.“ Es klingt an, dass es in der Regel ungeheuer schwer ist, historische Phänomene zu beurteilen. Das Maß an Differenziertheit, welches von jedem redlichen Historiker gefordert wird, führt ihn an die Grenzen dessen intellektueller Leistungsfähigkeit. Also keine vorschnellen Urteile, keine falschen Gewissheiten – keine Objektivität wie schon Nietzsche in seiner Unzeitgemäßen Betrachtung „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ klargestellt hat.
Die literarische Qualität von Golo Manns Schriften ist mit der von Sebastian Haffner zu vergleichen, nur dass der Journalist Haffner berufsbedingt die Reduktion wählte, wohingegen Mann die große Form bevorzugte.
Geschichtsschreibung ist Literatur – dieser Grundsatz gilt bereits seit der Antike. Herodot erzählte Geschichte, Thukydides ergänzt diesen Ansatz durch analytische Methoden, die auch den heutigen Historikern noch zum Vorteil gereichen. Dabei wird nichts verfälscht, sondern Geschichte überliefert, gesichert, tradiert.
Thorsten Heckmann