Mister Levov ist traumatisiert. Seine sechzehnjährige Tochter Meredith verübt einen Bombenanschlag auf ein Postamt in ihrem Heimatort Old Rimrock, New Jersey. Ein Mensch stirbt.
Meredith, genannt Merry, war zwar eine äußerst schwierige Jugendliche, sie quälte ihre Eltern, Angehörige der amerikanischen upper middle class mit antikapitalistischen und revolutionären Parolen, agitierte gegen den Krieg der USA in Vietnam – aber das!
Seymour Levov ist der Held des Romans Amerikanisches Idyll (Original: American Pastoral) von Philip Roth. Ein amerikanischer Held, den der Autor einer unbarmherzigen Dekonstruktion unterzieht. Zunächst lernt der Leser die Geschichte vom erfolgreichen, beneidenswerten Mister Levov kennen. Seymour, Sohn eines gleichsam erfolgreichen wie patriarchalischen Unternehmers, ist ein bewunderter High-School-Sportler, später US-Marine, dann reüssiert er als Nachfolger seines Vaters. Er will in seinem Leben alles richtig machen, was ihn nicht vor dem Abgrund schützt, der sich nach der Wahnsinnstat seiner Tochter vor ihm auftut.
Philip Roth orientiert sich in seinem Roman an der biblischen Hiob-Erzählung. Hiob, ein rechtschaffener Mann, wird von Gott alles genommen: Seine Familie, sein umfangreicher Besitz. Er zweifelt, er klagt, doch letztlich hält er an Gott fest, vertraut dem consilium dei.
In der biblischen Erzählung wird Hiob dafür belohnt. Er erhält sein Eigentum verdoppelt zurück, gründet eine neue Familie. Dieses Glück ist Seymour Levov nicht beschieden. Nachdem seine erste Ehe gescheitert ist, heiratet er zwar noch einmal und wird wieder Vater. Aber den Bruch in seinem Leben kann er nicht bewältigen. Er hat den Wahnsinn gesehen und wird ihn nicht vergessen.
In der Hiob-Erzählung wird das bis dahin im Alten Testament übliche Tun-Ergehen-Schema in Frage gestellt. Ähnliches vollzieht Philip Roth im Amerikanischen Idyll. Nur dass Seymour nicht dem Ideal nachjagt, ein frommer und rechtschaffener Mann zu sein, sein Idealbild ist Amerika, in dem man es durch Fleiß, Zuverlässigkeit und Anpassung zu persönlichem Glück bringen kann.
Roth siedelt Merrys Attentat im Jahr 1968 an. Eine Zeit, in der die amerikanische Gesellschaft gewaltige Veränderungen durchlebte: Civil Rights Movement, Vietnam und der Ruf linker Intellektueller nach einer Abkehr der USA vom Kapitalismus. Es waren häufig junge Menschen aus gut situierten Familien, die sich gesellschaftskritisch äußerten, viele verbal, in Demonstrationen und Protestschriften, manche in Form roher Gewalt – wie zum Beispiel Merry.
Die Frage, warum Merry zur Terroristin geworden ist, wird im Roman nicht geklärt, lediglich Erklärungsansätze werden geliefert. Seymour muss seine Tochter, nachdem er sie 1973 noch einmal gesehen hat, zurücklassen. Sie, inzwischen in einem esoterischen Wahn gefangen, lebt verarmt und vereinsamt im Untergrund.
Thorsten Heckmann