Rauschendes Berlin. Der One-Take-Film Victoria
„Victoria“ (seit dem 11. Juni 2015 im Kino) ist nichts für schwache Nerven. Sind die ersten credits noch durch einen schwarzen Hintergrund und die fein komponierten Beats von Nils Frahm unterlegt, explodiert plötzlich gleißend helles Strobo-Licht auf der Leinwand. Zunächst beruhigt sich die Kamera und findet Victoria im Gewirr der Tanzfläche. Doch als Boxer eine halbe Stunde später aufgeregt ins Bild stürmt, kommt das Adrenalin zurück.
Bei diesem Film, dessen 140 Minuten Spielzeit an einem 27. April ab 4:30 Uhr in einem Take vom genialen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen eingefangen wurden, ist das Strobo jedoch kein eingespielter Effekt. Nein, es prasselt auf Victoria (Laia Costa) nieder, während sie in einem Elektro-Club in Berlin-Mitte ausgelassen, aber allein feiert. Nach dem letzten doppelten Wodka stolpert sie aus dem Club und in die Clique von Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) – die wohl sympathischsten Kleinkriminellen zwischen Neukölln und Wedding. Es entspinnen sich angloberlinernde Dialoge, die nicht nur das Seelenleben der Charaktere frei legen, sondern auch das Herz des Zuschauers gewinnen. Egal welchen Lauf die Geschichte nun nimmt – man ist mit gefangen in ihr.
Regisseur Sebastian Schipper, den man sonst vor allem auch als Schauspieler kennt (3, Lola rennt), hat mit diesem Filmprojekt viel riskiert. Zwar haben schon einige Filme lange Sequenzen ohne Schnitt verwendet (Birdman, Russian Ark), doch das Wagnis und die unheimliche Kraftanstrengung 140 Minuten in einem Take zu drehen hat noch niemand gewagt. So probte das Team den Dreh insgesamt 15 Mal, ehe letztlich innerhalb von zwei Wochen drei Versionen abgedreht wurden – es ist zu hören, dass vor dem entscheidenden letzten Dreh noch große Unzufriedenheit herrschte. Doch Schipper hat das Wagnis grandios gemeistert. Glaubt man den Interviews, so liegt das vor allem an seinen intensiven Hintergrundgesprächen mit den Schauspielern, um die einzelnen Charaktere zu entwickeln. Es ist diese lockere, aber gehaltvolle Basis, auf der die Schauspieler bei nur zwölf Seiten Skript frei aufspielen.
Gerade in der Anfangsphase des Films nutzen Laia Costa und Frederick Lau diese radikale Spielfreiheit, um eine so nahbare Liebesgeschichte darzustellen, dass einem selbst das Herz schneller schlägt. Dieser Prozess gipfelt in der Piano-Szene, in der Victoria mit ihrem offensiven Charme plötzlich den verflixt schweren Mephisto-Walzer von Franz Liszt spielt und sich Sonne beim Anblick vollkommen in ihren Bann ziehen lässt. Den gleichen tief entzückten Gesichtsausdruck hat wohl auch der Kinobesucher während den 140 Minuten Victoria.
Philipp Schultheiß