Schlüsselwerk der Moderne. Robert Delaunays Gemälde „La tour aux rideaux“

Henri blickt aus dem Fenster. Den März 1908 verbringt er bei seiner wohlhabenden Tante in Paris. Die Einrichtung ihrer großzügigen Wohnung strahlt bürgerliche Behaglichkeit aus, an den Fenstern Gardinen. Doch hieran ist der junge Mann nicht interessiert. Er hat nur Augen für das Weltwunder, das er durch das Fenster sehen kann: Den Tour Eiffel.

So könnte eine Erzählung beginnen, die von Robert Delaunays berühmten Gemälde „La tour aux rideaux“ inspiriert ist. Dieses Werk, ausgestellt in der hervorragenden Sammlung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, ist ein Schlüsselwerk der Moderne. In ihm wird vieles zum Ausdruck gebracht, was charakteristisch ist für die Kunst des Expressionismus.

Obgleich der Eiffelturm implodiert, bleibt er auch in Delaunays Bild ein imposantes Bauwerk. Der Turm, 1889 fertiggestellt, ist das Symbol für technischen Fortschritt, für Machbarkeit, für Optimismus. Der fränzösische Maler bestaunt ihn, zerstört ihn.

Delaunay weist damit auf die autodestruktiven Tendenzen der Fortschritts hin: Die Menschen schaffen sich mit Hilfe der Technik neue Möglichkeiten, die häufig Segen, mitunter aber auch Fluch sein können. Der Künstler konnte nicht wissen, welche Verheerungen ab dem Jahr 1914 über Europa hineinbrechen würden, er nahm jedoch wahr, dass sich Unheil abzeichnete.

Der technische Fortschritt hatte dem urbanen Bürgertum eine signifikante Steigerung der Lebensqualität gebracht, zugleich bedrohte er dessen Existenz. 1910, dem Entstehungsjahr von Delaunays Gemälde, war die Moderne in einer schwerwiegenden Krise, was in „La tour aux rideaux“ auf prägnante Art und Weise zum Ausdruck gebracht wird.

Die europäischen Großmächte standen im Zeitalter des Imperialismus in harter Konkurrenz zueinander. Kooperation und Kompromiss waren in der internationalen Politik Fremdwörter. Bündnisse wurden nur geschlossen, um sich gegen andere Allianzen zu rüsten, eine stabile europäische Friedensordnung war nicht Sicht.

Wenn heute die Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise mit endlos scheinenden Verhandlungen konfrontiert ist, sollte dies nicht vergessen werden. Obschon der Reigen von Krisengipfeln die Nerven der Menschen strapaziert, ist er ein zivilisatorischer Fortschritt. Die Ergebnisse dieses zähen Ringens können im öffentlichen Diskurs selbstverständlich kritisch hinterfragt werden. Jedoch ist unstrittig, dass es sich um Resultate internationaler Zusammenarbeit handelt.

Zurück zu Delaunays Gemälde: Der implodierende Eiffelturm symbolisiert auch tiefgreifende Umwälzungen in den industrialisierten Gesellschaften Europas. Die soziale Frage, welche sich ab dem 19. Jahrhundert stellte, war noch nicht zufriedenstellend gelöst. Die Arbeiterschaft forderte vehement mehr politische Mitsprache, stieß aber damit bei weiten Teilen des arrivierten Bürgertums auf entschiedene Ablehnung. Erst nach 1945 gelang es zumindest westlich des eisernen Vorhangs einen Konsens zwischen Arbeitern und Bürgern herzustellen – als Gegenmodell zum sozialistischen Gesellschaftssystem und begünstigt durch eine lange Phase ökonomischen Aufschwungs.

Robert Delaunay vermittelt in „La Tour aux rideaux“ eine im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert weit verbreitete Realitätswahrnehmung: Die Menschen dieser Zeit fühlten sich angesichts der gewaltigen Transformationsprozesse überfordert. Die Moderne eröffnete ihnen faszinierende neue Welten, doch die Vielzahl der Impulse war gleichsam bedrohlich. Betrachtet man die Geschichte Europas zwischen 1914 und 1945, waren diese Ängste ohne jeden Zweifel nicht unbegründet. 

Thorsten Heckmann

Der soziale Einzelgänger. Immanuel Kants Idee der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen

In der römischen Republik stritten mächtige Männer um noch mehr Macht. Das höchste Amt im Staate war das Konsulat. Hatte man diese Stufe in der Hierarchie erreicht, durfte man ein Jahr lang gemeinsam mit einem Kollegen Rom regieren. Danach winkte eine Stelle als Prokonsul und Statthalter in einer Provinz, die man zur Mehrung des eigenen Reichtums ausbeuten konnte. 

Es gibt Historiker, die behaupten, dass der eben skizzierte Zusammenhang die eigentliche Ursache für die Expansion des römischen Reiches war. Dieser Erklärungsansatz ist zweifelsohne zu monokausal. Doch ist die Konkurrenz innerhalb der römischen Nobilität eine hervorragende Veranschaulichung für das, was der große Welt- und Menschenerklärer Immanuel Kant (1724-1804) in seiner Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) die „ungesellige Geselligkeit“ der Menschen genannt hat.

Der Mensch sucht gerne die Gesellschaft anderer Menschen, stört sich aber daran, dass diese häufig nicht so wollen wie er. Allein schon die Vermutung, eine andere Person könnte sich dem eigenen Willen widersetzten, löst großes Unbehagen aus. Der Wunsch, den tatsächlichen oder vermeintlichen Widerstand des Anderen zu überwinden, ist die Ursache von Ehrgeiz. Was von vielen möglicherweise als unangenehme Verhaltensweise gesehen wird, ist für Kant der wesentliche Antrieb gesellschaftlicher Entwicklungen, in politischer wie auch in kultureller Hinsicht.

Gäbe es folglich die aus der „ungeselligen Geselligkeit“ resultierende Konflikte nicht, würde der Mensch die Talente, welche ihm die Natur gegeben hat, nicht oder nur in geringfügigen Maße entwickeln – Stagnation.

Trifft das zu? Nutzen nicht beispielsweise künstlerisch begabte Menschen häufig ihre Fähigkeiten ohne Ehrgeiz als wichtigstem Motiv ihres Handelns? Auf dem Feld des Politischen leuchtet die Idee des Königberger Philosophen schon eher ein. Es gibt zahllose Beispiele dafür, wie Menschen wegen persönlicher Ambitionen in den Weltenlauf eingegriffen haben. Entsprechen die Produkte ihres Handelns dem Gemeinwohl ist hieran nichts auszusetzen – nicht immer war und ist dies der Fall.

Thorsten Heckmann