Tempora non labuntur. Die herausragende Netflix-Serie „Dark“
In der Kleinstadt Winden verschwinden zwei Kinder und ein Jugendlicher. Ein Junge, dessen Identität später nicht festgestellt werden kann, wird tot aufgefunden. Die Bevölkerung ist verängstigt und aufgebracht – Vermisstenmeldungen, Suchaktionen im Wald, Elternabend. Der lokale Radiosender fragt: Können wir unsere Kinder noch schützen?
Soweit wäre dies eine passende Ausgangslage für einen sonntäglichen Tatort, Charlotte Lindholm könnte ermitteln. In neunzig Minuten wäre der Fall gelöst, nicht ohne vorher routiniert einen kritisch-süffisanten Blick auf die Zustände in der deutschen Provinz zu werfen.
„Dark“, die erste deutsche Serie, die für den Streaming-Giganten Netflix gedreht wurde, verfolgt einen anderen Ansatz: In zehn Folgen (alle seit dem 1. Dezember 2017 auf Netflix verfügbar) wird ein epischer Mikrokosmos geschaffen, in dem es nicht um die Desavouierung der Provinzbevölkerung geht; es soll gezeigt werden, wie Existenzen ins Wanken geraten oder gar vernichtet werden, wenn die scheinbar festgefügte Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft punktuell aufgehoben wird. Die Auflösung der linearen Zeitprogession mag auf den ersten Blick als große Chance gelten: gestern/heute dem Unheil von heute/morgen vorbeugen. Realiter werden aber im Laufe der komplexen wie hochspannenden Serienhandlung Identitäten zerstört, Lebenswege mit Aussicht auf Gelingen dem Scheitern preisgegeben. Menschen, die als Zeitreisende im festen Glauben agieren, Gutes zu bewirken, schaffen Böses.
Warum ist „Dark“ besser als alles, was in den letzten Jahren in Deutschland für das Fernsehen produziert wurde? Das Geld, das Netflix in die Produktion der Serie investierte, verschaffte den Machern Unabhängigkeit vom hergebrachten System der deutschen Filmförderung; auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten durften nicht mitreden. Das Team um den Regisseur Baran bo Odor durfte die Rollen nach den eigenen künstlerischen Vorstellungen besetzen; kein Günther Maria Halmer, nur weil ein Redakteur es wollte. Der einzige prominente Schauspieler, der die Bühne betritt, ist der Berliner Tatort-Kommissar Mark Waschke als diabolischer Priester Noah.
Es muss kein historisches Trauma der Deutschen teletherapeutisch verarbeitet werden: das Spätständische, Autoritäre und Gewalttätige der Fünfziger blitzt auf; ebenso die regressiven, rebellischen und fortschrittlichen Elemente der Achtziger-Jahre-Mentalität. Die Gegenwart findet im Jahr 2019 statt, inklusive Smartphones, Retrokult sowie des diffus-manifesten Gefühls, dass sich für die Zukunft etwas zusammenbraut.
Die Figuren von „Dark“ – egal ob Polizist, Schulleiterin, Kernkraftwerkchef, Hotelmanagerin oder Psychologe – verlieren aufgrund des Loches im Zeitgefüge den Boden unter den Füßen. Den Kindern und Jugendlichen gelingt kein gesundes Heranwachsen und Erwachsenwerden, weil ein vermeintlich harmloser Schritt voran, ein Trip in die Vergangenheit oder gar den Weg in den Tod bedeuten kann.
„Dark“ begeistert wie keine deutsche Produktion seit „Im Angesicht des Verbrechens“ (2010), „Dark“ reüssiert auch im Ausland. Netflix hat die zweite Staffel bereits in Auftrag gegeben. Auf Filmseiten wie imdb.com raten anglophone User, die Serie im deutschen Original mit englischen Untertiteln zu streamen; die Synchronisation überzeugt die internationale Gemeinde der Serienfans nicht.
Einige wenige Geheimnisse werden im Laufe der ersten zehn Folgen gelüftet, viele neue Fragen insbesondere in den letzten drei Episoden vorgestellt: die größte Gefahr für die zweite Staffel ist erzählerische Verzettelung und überambitionierte Verrätselung. An diesen Fehlbelastungen ist die amerikanischische Serie „Lost“ (2004 bis 2010), strukturell und ästhetisch zweifelsohne ein Vorbild von „Dark“, am Ende gescheitert. Winden wird es hoffentlich besser ergehen.
Thorsten Heckmann