Tempora non labuntur. Die herausragende Netflix-Serie „Dark“

In der Kleinstadt Winden verschwinden zwei Kinder und ein Jugendlicher. Ein Junge, dessen Identität später nicht festgestellt werden kann, wird tot aufgefunden. Die Bevölkerung ist verängstigt und aufgebracht – Vermisstenmeldungen, Suchaktionen im Wald, Elternabend. Der lokale Radiosender fragt: Können wir unsere Kinder noch schützen?

Soweit wäre dies eine passende Ausgangslage für einen sonntäglichen Tatort, Charlotte Lindholm könnte ermitteln. In neunzig Minuten wäre der Fall gelöst, nicht ohne vorher routiniert einen kritisch-süffisanten Blick auf die Zustände in der deutschen Provinz zu werfen.

„Dark“, die erste deutsche Serie, die für den Streaming-Giganten Netflix gedreht wurde, verfolgt einen anderen Ansatz: In zehn Folgen (alle seit dem 1. Dezember 2017 auf Netflix verfügbar) wird ein epischer Mikrokosmos geschaffen, in dem es nicht um die Desavouierung der Provinzbevölkerung geht; es soll gezeigt werden, wie Existenzen ins Wanken geraten oder gar vernichtet werden, wenn die scheinbar festgefügte Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft punktuell aufgehoben wird. Die Auflösung der linearen Zeitprogession mag auf den ersten Blick als große Chance gelten: gestern/heute dem Unheil von heute/morgen vorbeugen. Realiter werden aber im Laufe der komplexen wie hochspannenden Serienhandlung Identitäten zerstört, Lebenswege mit Aussicht auf Gelingen dem Scheitern preisgegeben. Menschen, die als Zeitreisende im festen Glauben agieren, Gutes zu bewirken, schaffen Böses.

Warum ist „Dark“ besser als alles, was in den letzten Jahren in Deutschland für das Fernsehen produziert wurde? Das Geld, das Netflix in die Produktion der Serie investierte, verschaffte den Machern Unabhängigkeit vom hergebrachten System der deutschen Filmförderung; auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten durften nicht mitreden. Das Team um den Regisseur Baran bo Odor durfte die Rollen nach den eigenen künstlerischen Vorstellungen besetzen; kein Günther Maria Halmer, nur weil ein Redakteur es wollte. Der einzige prominente Schauspieler, der die Bühne betritt, ist der Berliner Tatort-Kommissar Mark Waschke als diabolischer Priester Noah.

Es muss kein historisches Trauma der Deutschen teletherapeutisch verarbeitet werden: das Spätständische, Autoritäre und Gewalttätige der Fünfziger blitzt auf; ebenso die regressiven, rebellischen und fortschrittlichen Elemente der Achtziger-Jahre-Mentalität. Die Gegenwart findet im Jahr 2019 statt, inklusive Smartphones, Retrokult sowie des diffus-manifesten Gefühls, dass sich für die Zukunft etwas zusammenbraut.

Die Figuren von „Dark“ – egal ob Polizist, Schulleiterin, Kernkraftwerkchef, Hotelmanagerin oder Psychologe – verlieren aufgrund des Loches im Zeitgefüge den Boden unter den Füßen. Den Kindern und Jugendlichen gelingt kein gesundes Heranwachsen und Erwachsenwerden, weil ein vermeintlich harmloser Schritt voran, ein Trip in die  Vergangenheit oder gar den Weg in den Tod bedeuten kann.

„Dark“ begeistert wie keine deutsche Produktion seit „Im Angesicht des Verbrechens“ (2010), „Dark“ reüssiert auch im Ausland. Netflix hat die zweite Staffel bereits in Auftrag gegeben. Auf Filmseiten wie imdb.com raten anglophone User, die Serie im deutschen Original mit englischen Untertiteln zu streamen; die Synchronisation überzeugt die internationale Gemeinde der Serienfans nicht.

Einige wenige Geheimnisse werden im Laufe der ersten zehn Folgen gelüftet, viele neue Fragen insbesondere in den letzten drei Episoden vorgestellt: die größte Gefahr für die zweite Staffel ist erzählerische Verzettelung und überambitionierte Verrätselung. An diesen Fehlbelastungen ist die amerikanischische Serie „Lost“ (2004 bis 2010), strukturell und ästhetisch zweifelsohne ein Vorbild von „Dark“, am Ende gescheitert. Winden wird es hoffentlich besser ergehen.

Thorsten Heckmann

Schlüsselwerk der Moderne. Robert Delaunays Gemälde „La tour aux rideaux“

Henri blickt aus dem Fenster. Den März 1908 verbringt er bei seiner wohlhabenden Tante in Paris. Die Einrichtung ihrer großzügigen Wohnung strahlt bürgerliche Behaglichkeit aus, an den Fenstern Gardinen. Doch hieran ist der junge Mann nicht interessiert. Er hat nur Augen für das Weltwunder, das er durch das Fenster sehen kann: Den Tour Eiffel.

So könnte eine Erzählung beginnen, die von Robert Delaunays berühmten Gemälde „La tour aux rideaux“ inspiriert ist. Dieses Werk, ausgestellt in der hervorragenden Sammlung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, ist ein Schlüsselwerk der Moderne. In ihm wird vieles zum Ausdruck gebracht, was charakteristisch ist für die Kunst des Expressionismus.

Obgleich der Eiffelturm implodiert, bleibt er auch in Delaunays Bild ein imposantes Bauwerk. Der Turm, 1889 fertiggestellt, ist das Symbol für technischen Fortschritt, für Machbarkeit, für Optimismus. Der fränzösische Maler bestaunt ihn, zerstört ihn.

Delaunay weist damit auf die autodestruktiven Tendenzen der Fortschritts hin: Die Menschen schaffen sich mit Hilfe der Technik neue Möglichkeiten, die häufig Segen, mitunter aber auch Fluch sein können. Der Künstler konnte nicht wissen, welche Verheerungen ab dem Jahr 1914 über Europa hineinbrechen würden, er nahm jedoch wahr, dass sich Unheil abzeichnete.

Der technische Fortschritt hatte dem urbanen Bürgertum eine signifikante Steigerung der Lebensqualität gebracht, zugleich bedrohte er dessen Existenz. 1910, dem Entstehungsjahr von Delaunays Gemälde, war die Moderne in einer schwerwiegenden Krise, was in „La tour aux rideaux“ auf prägnante Art und Weise zum Ausdruck gebracht wird.

Die europäischen Großmächte standen im Zeitalter des Imperialismus in harter Konkurrenz zueinander. Kooperation und Kompromiss waren in der internationalen Politik Fremdwörter. Bündnisse wurden nur geschlossen, um sich gegen andere Allianzen zu rüsten, eine stabile europäische Friedensordnung war nicht Sicht.

Wenn heute die Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise mit endlos scheinenden Verhandlungen konfrontiert ist, sollte dies nicht vergessen werden. Obschon der Reigen von Krisengipfeln die Nerven der Menschen strapaziert, ist er ein zivilisatorischer Fortschritt. Die Ergebnisse dieses zähen Ringens können im öffentlichen Diskurs selbstverständlich kritisch hinterfragt werden. Jedoch ist unstrittig, dass es sich um Resultate internationaler Zusammenarbeit handelt.

Zurück zu Delaunays Gemälde: Der implodierende Eiffelturm symbolisiert auch tiefgreifende Umwälzungen in den industrialisierten Gesellschaften Europas. Die soziale Frage, welche sich ab dem 19. Jahrhundert stellte, war noch nicht zufriedenstellend gelöst. Die Arbeiterschaft forderte vehement mehr politische Mitsprache, stieß aber damit bei weiten Teilen des arrivierten Bürgertums auf entschiedene Ablehnung. Erst nach 1945 gelang es zumindest westlich des eisernen Vorhangs einen Konsens zwischen Arbeitern und Bürgern herzustellen – als Gegenmodell zum sozialistischen Gesellschaftssystem und begünstigt durch eine lange Phase ökonomischen Aufschwungs.

Robert Delaunay vermittelt in „La Tour aux rideaux“ eine im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert weit verbreitete Realitätswahrnehmung: Die Menschen dieser Zeit fühlten sich angesichts der gewaltigen Transformationsprozesse überfordert. Die Moderne eröffnete ihnen faszinierende neue Welten, doch die Vielzahl der Impulse war gleichsam bedrohlich. Betrachtet man die Geschichte Europas zwischen 1914 und 1945, waren diese Ängste ohne jeden Zweifel nicht unbegründet. 

Thorsten Heckmann

Der soziale Einzelgänger. Immanuel Kants Idee der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen

In der römischen Republik stritten mächtige Männer um noch mehr Macht. Das höchste Amt im Staate war das Konsulat. Hatte man diese Stufe in der Hierarchie erreicht, durfte man ein Jahr lang gemeinsam mit einem Kollegen Rom regieren. Danach winkte eine Stelle als Prokonsul und Statthalter in einer Provinz, die man zur Mehrung des eigenen Reichtums ausbeuten konnte. 

Es gibt Historiker, die behaupten, dass der eben skizzierte Zusammenhang die eigentliche Ursache für die Expansion des römischen Reiches war. Dieser Erklärungsansatz ist zweifelsohne zu monokausal. Doch ist die Konkurrenz innerhalb der römischen Nobilität eine hervorragende Veranschaulichung für das, was der große Welt- und Menschenerklärer Immanuel Kant (1724-1804) in seiner Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) die „ungesellige Geselligkeit“ der Menschen genannt hat.

Der Mensch sucht gerne die Gesellschaft anderer Menschen, stört sich aber daran, dass diese häufig nicht so wollen wie er. Allein schon die Vermutung, eine andere Person könnte sich dem eigenen Willen widersetzten, löst großes Unbehagen aus. Der Wunsch, den tatsächlichen oder vermeintlichen Widerstand des Anderen zu überwinden, ist die Ursache von Ehrgeiz. Was von vielen möglicherweise als unangenehme Verhaltensweise gesehen wird, ist für Kant der wesentliche Antrieb gesellschaftlicher Entwicklungen, in politischer wie auch in kultureller Hinsicht.

Gäbe es folglich die aus der „ungeselligen Geselligkeit“ resultierende Konflikte nicht, würde der Mensch die Talente, welche ihm die Natur gegeben hat, nicht oder nur in geringfügigen Maße entwickeln – Stagnation.

Trifft das zu? Nutzen nicht beispielsweise künstlerisch begabte Menschen häufig ihre Fähigkeiten ohne Ehrgeiz als wichtigstem Motiv ihres Handelns? Auf dem Feld des Politischen leuchtet die Idee des Königberger Philosophen schon eher ein. Es gibt zahllose Beispiele dafür, wie Menschen wegen persönlicher Ambitionen in den Weltenlauf eingegriffen haben. Entsprechen die Produkte ihres Handelns dem Gemeinwohl ist hieran nichts auszusetzen – nicht immer war und ist dies der Fall.

Thorsten Heckmann

Rauschendes Berlin. Der One-Take-Film Victoria

„Victoria“ (seit dem 11. Juni 2015 im Kino) ist nichts für schwache Nerven. Sind die ersten credits noch durch einen schwarzen Hintergrund und die fein komponierten Beats von Nils Frahm unterlegt, explodiert plötzlich gleißend helles Strobo-Licht auf der Leinwand. Zunächst beruhigt sich die Kamera und findet Victoria im Gewirr der Tanzfläche. Doch als Boxer eine halbe Stunde später aufgeregt ins Bild stürmt, kommt das Adrenalin zurück.

Bei diesem Film, dessen 140 Minuten Spielzeit an einem 27. April ab 4:30 Uhr in einem Take vom genialen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen eingefangen wurden, ist das Strobo jedoch kein eingespielter Effekt. Nein, es prasselt auf Victoria (Laia Costa) nieder, während sie in einem Elektro-Club in Berlin-Mitte ausgelassen, aber allein feiert. Nach dem letzten doppelten Wodka stolpert sie aus dem Club und in die Clique von Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) – die wohl sympathischsten Kleinkriminellen zwischen Neukölln und Wedding. Es entspinnen sich angloberlinernde Dialoge, die nicht nur das Seelenleben der Charaktere frei legen, sondern auch das Herz des Zuschauers gewinnen. Egal welchen Lauf die Geschichte nun nimmt – man ist mit gefangen in ihr.

Regisseur Sebastian Schipper, den man sonst vor allem auch als Schauspieler kennt (3, Lola rennt), hat mit diesem Filmprojekt viel riskiert. Zwar haben schon einige Filme lange Sequenzen ohne Schnitt verwendet (Birdman, Russian Ark), doch das Wagnis und die unheimliche Kraftanstrengung 140 Minuten in einem Take zu drehen hat noch niemand gewagt. So probte das Team den Dreh insgesamt 15 Mal, ehe letztlich innerhalb von zwei Wochen drei Versionen abgedreht wurden – es ist zu hören, dass vor dem entscheidenden letzten Dreh noch große Unzufriedenheit herrschte. Doch Schipper hat das Wagnis grandios gemeistert. Glaubt man den Interviews, so liegt das vor allem an seinen intensiven Hintergrundgesprächen mit den Schauspielern, um die einzelnen Charaktere zu entwickeln. Es ist diese lockere, aber gehaltvolle Basis, auf der die Schauspieler bei nur zwölf Seiten Skript frei aufspielen.

Gerade in der Anfangsphase des Films nutzen Laia Costa und Frederick Lau diese radikale Spielfreiheit, um eine so nahbare Liebesgeschichte darzustellen, dass einem selbst das Herz schneller schlägt. Dieser Prozess gipfelt in der Piano-Szene, in der Victoria mit ihrem offensiven Charme plötzlich den verflixt schweren Mephisto-Walzer von Franz Liszt spielt und sich Sonne beim Anblick vollkommen in ihren Bann ziehen lässt. Den gleichen tief entzückten Gesichtsausdruck hat wohl auch der Kinobesucher während den 140 Minuten Victoria.

Philipp Schultheiß

Im Temporausch. Das Action-Spektakel Mad Max: Fury Road

Schon am Design der Verleihlogos zu Beginn des Filmes und der sofort einsetzenden Gitarren-Staccati ist das Motto des Films vorgegeben: Adrenalin. Ob es nun die Nitro-Einspritzer der Kampfgefährte sind oder die silbernen Drogensprays der Kämpfer, stets muss neuer Antrieb geschaffen werden, sonst bleibt man in der Welt von Mad Max: Fury Road (seit dem 14. Mai 2015 im Kino) auf der Strecke. Und das im wörtlichen Sinne, lässt sich doch die komplette Handlung des Filmes an einer Fahrstrecke verfolgen.

Dreißig Jahre nach dem letzten Teil der Reihe wird Max (Tom Hardy) in die Festung von Immortan Joe (Hugh Keays-Byrne) entführt, die er trotz spektakulären Ausbruchsversuchen am Ende nur gefesselt auf den Kühlergrill eines Schlachtwagens verlässt. Grund dafür ist die Flucht der einarmigen Furiosa (Charlize Theron), die dem Imperator fünf Sklavinnen raubt, welche als lebendige Gebärmaschinen den Grundstein für dessen Nachfolge schaffen sollten. In der Folge entbrennt eine wilde Verfolgungsjagd durch atemberaubend triste Landschaften, die Max und Furiosa zu einem Team werden lässt und den Rahmen für ein wahres Action-Feuerwerk liefert.

Tatsächlich ist damit nahezu der komplette Plot des Films erläutert, was George Miller aber wohl genau so geplant hat. Der Regisseur der ersten drei Mad-Max-Filme verzichtet konsequent auf die in Action-Filmen ohnehin oft platten Dialoge und steckt sehr viel Liebe in das Kostüm-, Maschinen- und Setdesign. Besonders stechen hier die mit E-Gitarristen und Trommlern ausgestatteten Kampfgefährte heraus, deren Sounds direkt in die Filmmusik integriert sind. Beeindruckend ist auch die Choreographie der Stunts, die oftmals erst durch originelle Verkettungen von Ereignissen ihr Ende finden. Hier macht sich positiv bemerkbar, dass nahezu ausschließlich echte Autos und Stunts eingesetzt wurden, die ein schicker digitaler Beschleunigungseffekt im Bildlauf ergänzt.

Der Film begeistert also vor allem technisch, schafft es aber auch inhaltlich zu überzeugen, indem er mit sehr starken weiblichen Charakteren aufwartet. Anders als Max, der jede Hoffnung für gefährlich hält, kämpfen die Frauen um Furiosa mit allen Mitteln um Erlösung.

Philipp Schultheiß

Der verzweifelte Held. Philip Roths Meisterwerk Amerikanisches Idyll

Mister Levov ist traumatisiert. Seine sechzehnjährige Tochter Meredith verübt einen Bombenanschlag auf ein Postamt in ihrem Heimatort Old Rimrock, New Jersey. Ein Mensch stirbt.

Meredith, genannt Merry, war zwar eine äußerst schwierige Jugendliche, sie quälte ihre Eltern, Angehörige der amerikanischen upper middle class mit antikapitalistischen und revolutionären Parolen, agitierte gegen den Krieg der USA in Vietnam – aber das!

Seymour Levov ist der Held des Romans Amerikanisches Idyll (Original: American Pastoral) von Philip Roth. Ein amerikanischer Held, den der Autor einer unbarmherzigen Dekonstruktion unterzieht. Zunächst lernt der Leser die Geschichte vom erfolgreichen, beneidenswerten Mister Levov kennen. Seymour, Sohn eines gleichsam erfolgreichen wie patriarchalischen Unternehmers, ist ein bewunderter High-School-Sportler, später US-Marine, dann reüssiert er als Nachfolger seines Vaters. Er will in seinem Leben alles richtig machen, was ihn nicht vor dem Abgrund schützt, der sich nach der Wahnsinnstat seiner Tochter vor ihm auftut.

Philip Roth orientiert sich in seinem Roman an der biblischen Hiob-Erzählung. Hiob, ein rechtschaffener Mann, wird von Gott alles genommen: Seine Familie, sein umfangreicher Besitz. Er zweifelt, er klagt, doch letztlich hält er an Gott fest, vertraut dem consilium dei.

In der biblischen Erzählung wird Hiob dafür belohnt. Er erhält sein Eigentum verdoppelt zurück, gründet eine neue Familie. Dieses Glück ist Seymour Levov nicht beschieden. Nachdem seine erste Ehe gescheitert ist, heiratet er zwar noch einmal und wird wieder Vater. Aber den Bruch in seinem Leben kann er nicht bewältigen. Er hat den Wahnsinn gesehen und wird ihn nicht vergessen.

In der Hiob-Erzählung wird das bis dahin im Alten Testament übliche Tun-Ergehen-Schema in Frage gestellt. Ähnliches vollzieht Philip Roth im Amerikanischen Idyll. Nur dass Seymour nicht dem Ideal nachjagt, ein frommer und rechtschaffener Mann zu sein, sein Idealbild ist Amerika, in dem man es durch Fleiß, Zuverlässigkeit und Anpassung zu persönlichem Glück bringen kann.

Roth siedelt Merrys Attentat im Jahr 1968 an. Eine Zeit, in der die amerikanische Gesellschaft gewaltige Veränderungen durchlebte: Civil Rights Movement, Vietnam und der Ruf linker Intellektueller nach einer Abkehr der USA vom Kapitalismus. Es waren häufig junge Menschen aus gut situierten Familien, die sich gesellschaftskritisch äußerten, viele verbal, in Demonstrationen und Protestschriften, manche in Form roher Gewalt – wie zum Beispiel Merry.

Die Frage, warum Merry zur Terroristin geworden ist, wird im Roman nicht geklärt, lediglich Erklärungsansätze werden geliefert. Seymour muss seine Tochter, nachdem er sie 1973 noch einmal gesehen hat, zurücklassen. Sie, inzwischen in einem esoterischen Wahn gefangen, lebt verarmt und vereinsamt im Untergrund.

Thorsten Heckmann

Freiheit. Der Philosoph Jean-Paul Sartre

Der Mensch gestaltet sein Leben, macht sich zu dem, was er ist. Wenn er geboren wird, existiert er lediglich. Fortan erschafft der Mensch sein Wesen, also seine Persönlichkeit, seinen Charakter. Wohingegen es bei Gegenständen wie Stühlen, Fenstern oder Schuhen zunächst nur das Wesen gibt, sprich das Konzept, wie sie sein sollen. Nachdem ein Mensch die Gegenstände hergestellt hat, existieren sie.

Der Mensch zuerst nur Existenz, dann Wesen – mit dieser Idee wurde Jean-Paul Sartre kurz nach dem Zweiten Weltkrieg weltberühmt. Die Jugend der 1950er-Jahre, zumindest die privilegierte und bildungsbürgerlich geprägte, war fasziniert von der Theorie des französischen Philosophen. Man wurde Existenzialist. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war von freier Selbstgestaltung nicht viel zu spüren gewesen. In zwei Weltkriegen waren Millionen junger Männer zum Sterben an die Front geschickt worden. Auch die Zivilbevölkerung wurde nicht geschont: Angst und Tod statt Freiheit und Selbstbestimmung.

Jean-Paul Sartre wusste aber auch, dass es für die Menschen nicht immer leicht ist, die Freiheit zu ertragen: „Wir sind dazu verdammt, frei zu sein.“ Jeder kennt diese Situation. Eine wichtige, wegweisende Entscheidung ist zu treffen. Man kann andere Menschen um Rat fragen, man kann Ratgeber-Literatur konsultieren, doch letztlich fasst man den Entschluss alleine – existentielle Einsamkeit.

Sartres große Zeit waren die Fünfziger-und Sechziger-Jahre. 1946 war sein berühmtes Essay „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ erschienen. Von diesem Text distanzierte er sich zwar später, doch er ist ein guter Einstieg in sein Werk. Die Fünfziger werden häufig als konservative Zeit beschrieben. Das waren sie auch, insbesondere, wenn man als Durchschnittsbürger in der Bundesrepublik Deutschland lebte: Sissi und Gelsenkirchener Barock. Aber dieses Jahrzehnt zeichnet sich auch durch eine bemerkenswerte Modernität aus: Jackson Pollock, Hans Knoll, die Blechtrommel. Sartre war einer der Vordenker dieses Fortschritts. Zum Tragen kommen die neuen Ideen dann vor allem in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, insbesondere im Jahr 1968. Der Wohlstand, den das Wirtschaftswunder in den 1950er-Jahren gebracht hatte, war eine wichtige Voraussetzung für diese emanzipatorischen Gedanken.

Thorsten Heckmann

Machtspiel. Der Science-Fiction-Thriller Ex Machina

Es sind gerade einmal 20 Minuten des Films vergangen, wenn „Enola Gay“ von OMD ertönt und damit die entscheidende Wende des Films in Richtung Psychothriller einläutet. Der Song passt mit seiner Anspielung an den Atombombenabwurf auf Hiroshima perfekt zur zentralen Thematik des Films: Den Eingriff des Menschen in die Natur durch eine bahnbrechende Innovation. In Fall von Ex Machina (seit dem 23. April 2015 im Kino) die Erfindung eines Roboters, der über ein Maß an künstlicher Intelligenz verfügt, welche ihn vom Menschen ununterscheidbar macht.

Zu testen, ob dies seinem Chef Nathan (Oscar Isaac) gelungen ist, kommt dem jungen Programmierer Caleb (Domhnall Gleeson) zu und bildet den zentralen Handlungsrahmen des Films. Ausgewählt über ein firmeninternes Gewinnspiel beim Suchmaschinen-Riesen Bluebook (Verweis auf Wittgensteins gleichnamiges Buch), darf Caleb eine Woche mit seinem Boss in dessen Privatanwesen verbringen, um mittels Turing Test (benannt nach Alan Turing, portraitiert in The Imitation Game) dessen neueste Cyborg-Erfindung Ava (Alicia Vikander) zu überprüfen.

So steht zunächst einmal das Verhältnis von Chef und Arbeitnehmer in der heutigen Dotcom-Arbeitswelt im Fokus des Films, wenn Nathan immer wieder ganz lässig erklärt, dass Caleb sein „Buddy“ sei und er ihm hier hierarchiefrei begegnen wolle, gleichzeitig aber im Subtext und der Gestaltung der Räumlichkeiten ganz klare Grenzen aufzeigt. Dieser kritische Blick auf die Macht der oft so nahbar daher kommenden Chefs wird ergänzt durch Anspielungen an das geheime Datensammeln großer Internetfirmen, wobei Nathans Bluebook sicher nicht unabsichtlich an Google erinnert. Verstärkt wird diese Kritik zudem auf einer moralischen Ebene, indem der Film den Multimilliardär nicht nur als Alkoholiker, sondern auch als ziemlichen Macho portraitiert.

Neben dieser Thematik versucht der Schriftsteller (Der Strand) und Drehbuchautor (28 Days Later) Alex Garland in den Plot seines Regie-Debüts durch Anspielungen an Wittgenstein, Oppenheimer oder auch Noam Chomsky eine tiefere philosophische Ebene einzuweben, die aber letztlich sehr oberflächlich bleibt. Fragen nach dem schmalen Grad zwischen Wahrheit und Lüge oder der Qualität eines „guten Menschen“ kann der Zuschauer allenfalls im Anschluss an den Film diskutieren. Auch eine anspruchsvollere Diskussion von Gender-Identitäten verpasst der Film, obwohl er die Tür dazu aufstößt. Da nämlich, wo er bewusst macht, dass weibliche Androide in zahlreichen Filmen vor allem die Projektion männlicher Begierde darstellen (Blade Runner, Her).

Trotz dieser vertanen Chance überzeugt der Film letztlich hauptsächlich durch seinen Spannungsbogen, die ansprechende Ästhetik, die den Gegensatz von Natur und Technik eindrucksvoll veranschaulicht, und den tollen Cast. Während Alicia Vikander auf beeindruckende Art und Weise eine beängstigend menschlich wirkende Ava verkörpert, spielt Oscar Isaac die Pseudo-Intellektualität Nathans ebenso authentisch wie Domhnall Gleeson die stellenweise Naivität Calebs.

Philipp Schultheiß

Liebespaar. Marvel’s The Avengers 2: Age of Ultron

Die Rächer wollen zu Beginn des Films eine Festung einnehmen. Bis der Vorspann läuft, vergeht eine gefühlte Stunde: Belagerung, Explosionen, Todeskampf. Eine Liebesgeschichte verleiht dem Ganzen etwas Menschliches, auch Superhelden haben ein Herz, haben Sehnsüchte.

Im zweiten Teil der Avengers-Reihe (Age of Ultron, seit dem 23. April 2015 im Kino) wird Goethes Ballade vom Zauberlehrling aktualisiert: Tony Stark, der chronisch arrogante Milliärder, will eine künstliche Intelligenz schaffen, die den Weltfrieden sichern soll. Doch Ultron, das Produkt seiner Bemühungen, geht etwas zu analytisch-logisch ans Werk. Nach eingehender Datenverarbeitung kommt er zu dem Ergebnis, dass nur eine Maßnahme sinnvoll ist: Menschheit ausrotten. Das können die Avengers natürlich nicht zulassen und somit kommt es zu einem Krieg von gigantischem Ausmaß.

Dem Film ist hoch anzurechnen, dass er zeigt, wer besonders unter den Kampfhandlungen leidet: Es ist die Zivilbevölkerung, die um ihr Leben rennt, unbewaffnet, in Todesangst. Der Zuschauer erlebt die Kriegsszenen als bewegtes Schlachtengemälde und akustische Belastungsprobe. Die Schauspieler liefern eine routinierte Leistung ab, zwei stechen hervor: Scarlett Johansson und Mark Ruffalo – das verhinderte Liebespaar.

Die stärkste Sequenz hat Age of Ultron, als sich die Avengers auf die Farm von Hawkeye (Jeremy Renner) zurückziehen. Regeneration in der Idylle, die weit weg ist von dem mörderischen Konflikt, der aber auch  hier eine existenzielle Bedrohung darstellt. Wird der Ehemann und Vater aus der Schlacht zurückkehren? Zurück zur schwangeren Ehefrau? Zurück zu den Kindern, die er liebt und die ihn nicht entbehren können?

Thorsten Heckmann

Genie. Der Historiker und Schriftsteller Golo Mann

Golo Mann, der Sohn des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann, wählte sich die Historie als Gegenstand seines Werkes. Seine „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ ist ein Genuss für all jene, die sich für dieses Thema interessieren. Wer die sogenannten langen Linien studieren will, ist bei ihr genauso gut aufgehoben wie derjenige, den es zur Einzelbetrachtung besonderer Phänomen oder Personen treibt. Bismarck beispielsweise erhält hier ein Portrait, das plastischer und aufschlussreicher kaum sein könnte.

Wie verhält sich die Geschichtswissenschaft zur Literatur? In Golo Manns Werk sind die Grenzen fließend. Sowohl präzise historische Analysen als auch essayistische Höchstleistungen trifft der Leser an, das Buch liest sich wie ein guter Roman. Als Beispiel soll der erste Satz gegeben werden: „Viel hat der europäische Genius erfunden und der Welt gegeben; Böses und Gutes, solche Dinge zumeist, die zugleich gut und böse waren.“ Es klingt an, dass es in der Regel ungeheuer schwer ist, historische Phänomene zu beurteilen. Das Maß an Differenziertheit, welches von jedem redlichen Historiker gefordert wird, führt ihn an die Grenzen dessen intellektueller Leistungsfähigkeit. Also keine vorschnellen Urteile, keine falschen Gewissheiten – keine Objektivität wie schon Nietzsche in seiner Unzeitgemäßen Betrachtung „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ klargestellt hat.

Die literarische Qualität von Golo Manns Schriften ist mit der von Sebastian Haffner zu vergleichen, nur dass der Journalist Haffner berufsbedingt die Reduktion wählte, wohingegen Mann die große Form bevorzugte.

Geschichtsschreibung ist Literatur – dieser Grundsatz gilt bereits seit der Antike. Herodot erzählte Geschichte, Thukydides ergänzt diesen Ansatz durch analytische Methoden, die auch den heutigen Historikern noch zum Vorteil gereichen. Dabei wird nichts verfälscht, sondern Geschichte überliefert, gesichert, tradiert.

Thorsten Heckmann